Von Vorwürfen und Schuldzuweisungen

Mein letzter Artikel ist schon eine Weile her. Ich hatte meine Gründe. Mach mir deswegen jetzt bloß keine Vorwürfe. Oder doch? – Heute mal wieder was, nur für Fortgeschrittene, zum Ausprobieren.

„Klar darfst du anderer Meinung sein, aber wehe, du bewertest mich!“ – Ein häufiges Streitthema: Vorwürfe und Schuldzuweisungen

Erstmal vorneweg: Wenn wir nicht irgendwann aus dem Vorwurfsmodus aussteigen, dann ist das früher oder später toxisch für jede Beziehung.

Aaaaber meine Erfahrung ist auch, dass das Bekämpfen von Vorwürfen, den Konflikt noch verschlimmert und uns sogar darin behindert, mit den Vorwürfen aufzuhören.

Interessanterweise fällt es den meisten Eltern leichter, die Vorwürfe ihrer Kinder auszuhalten, als die ihrer Partner oder generell anderer Erwachsener.

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Warum der Unterschied? Was ist so schlimm an Vorwürfen?
Wenn wir uns Vorwürfe mal genauer ansehen enthalten sie zwei Informationen: Sie sind Bewertung und Gefühlsausdruck. Als angegriffene Seite bekämpfen wir die Bewertung oder das Gefühl. Unser Gegenüber verteidigt sein Gefühl und seine Bewertung.

Die Bewertung ist für uns schwer erträglich, weil wir das Bedürfnis haben, wertvoll zu sein für die Personen, die uns nahestehen. Wenn uns also eine nahestehende Person Fehlverhalten vorwirft, dann haben wir das Gefühl, dass unser Wert für diese Person sinkt.

Bei Kindern stellen wir unseren Wert nicht so schnell in Frage, wenn sie uns Vorwürfe machen. Klar mögen das die meisten von uns nicht, aber wir nehmen es nicht so persönlich. Weil wir davon ausgehen, dass wir eine riesige Bedeutung für unsere Kinder haben, ganz einfach weil wir ihre Eltern sind. Das ist für uns ein Naturgesetz, was die wenigsten von uns in Frage stellen. Besonders bei jüngeren Kindern fällt uns das leicht.

Es ist etwas ganz Natürliches zu bewerten. Wir gleichen immer unsere gegenwärtige Erfahrung mit unseren vergangenen Erfahrungen ab und versuchen sie dementsprechend einzuordnen.

„Was bedeutet es, was der andere tut, sagt und/oder denkt für mich und mein Leben?“ Jeder von uns bildet sich aufgrund seiner Erfahrungen im Leben ein Wertesystem, welches sich theoretisch unser ganzes Leben weiterentwickeln kann. „Macht das Sinn für mich oder nicht?“ „Mag ich das, mag ich das nicht?“

Das heißt nicht, dass die Dinge grundsätzlich gut oder schlecht sind, sondern eher dass unsere Erfahrungen damit öfter gut oder schlecht gewesen sind.

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Die angestrebte Lösung, um die sich viele redlich bemühen, nämlich nicht mehr zu bewerten, funktioniert leider nicht. Entweder belasssen wir damit unsere Bewertung im Unbewussten oder wir sprechen sie nur nicht aus. Unsere Bewertungen wirken trotzdem, in unserer Wahrnehmung, unserem Denken und unserem Handeln. Ob wir uns darüber bewusst sind oder nicht, wir bewerten immer! Ob das Ganze konstruktiv oder destruktiv wird, hängt davon ab, was Werter und Bewerteter mit der Bewertung machen.

Erst wenn wir daraus einen Streit über RICHTIG und FALSCH machen, entsteht das Drama. Im Grunde teilt uns unser Gegenüber erstmal nur mit, dass sie mit unserer Handlung nicht einverstanden ist, weil ihr das ihre Erfahrung sagt. Und dass wir ihre Vorstellung teilen sollen.

Da kommen dann die Gefühle mit ins Spiel. Was nämlich auch noch in einem Vorwurf enthalten ist, ist in etwa folgende Information: „Ich fühle mich nicht wohl damit. Deine Handlung, Aussage oder Meinung löst unangenehme Gefühle in mir aus.“ Und „Ich fühle mich gerade getrennt von dir. Ich finde jetzt keine Möglichkeit mich unabhängig von deinem Zutun besser zu fühlen. Bitte komm auf meine Seite, da fühle ich mich sicherer.“

Leider ertragen wir als Gegenüber oft den Gefühlsausdruck des Anderen nicht. Erstens weil sie uns an unsere eigenen Gefühle erinnern. Und zweitens liegt das daran, dass wir uns verantwortlich für die Gefühle des Anderen fühlen. So haben wir es als Kinder gelernt. Wenn du dieses oder jenes tust, ist Mama/Papa traurig, freut sich oder was auch immer. Und wenn wir selbst intensive Gefühle hatten als Kinder, war die Strategie unserer Eltern meist, diese zu relativieren: „Ist doch gar nicht so schlimm.“ „Indianer kennt keinen Schmerz.“ „Ich/Er/Sie hat’s nicht so gemeint. Da brauchst du doch nicht traurig zu sein.“ Wir alle haben wenig Skills, die Gefühle des anderen zu akzeptieren.

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Also wie kommen wir jetzt raus aus der Vorwurfspirale?

Mein Vorschlag: Lest zwischen den Zeilen. Jemand, der Vorwürfe macht steht immer unter Stress. Es geht dieser Person nicht gut und sie weiß sich mit ihrem Stress gerade nicht selbst zu helfen. Ja, natürlich will die Person, dass wir ihr sofort und widerspruchslos geben, was sie sich wünscht. Aus ihrer Sicht gibt es in dem Moment keine andere Möglichkeit.

Es macht deshalb gar keinen Sinn darüber zu streiten.

Egal ob wir gewillt sind, uns auf die Forderungen einzulassen oder nicht. Was an der Stelle am wichtigsten ist und jeder von uns braucht ist ANERKENNUNG. „Ja, ich sehe dich mit deinem Problem. So wie du es wahrnimmst, klingt das auch wirklich schlimm für mich. Ich spüre deine Verzweiflung/Wut/Trauer.“

Sagt Ja zur Bewertung, sagt Ja zu den Gefühlen. Ihr werdet ein kleines Wunder erleben. Es geht nicht darum, dass wir alles genauso sehen, es geht darum, dass wir einander sehen.

Vielleicht löst sich euer Konflikt dadurch nicht (sofort), aber ihr könnt euch dadurch trotz eures Konflikts verbinden. Und dann ist er vielleicht nicht mehr so schlimm.

Dies soll übrigens keine Einladung sein, sich beschimpfen zu lassen. Nur der Vorschlag, sich NICHT über die Vorwürfe zu streiten und stattdessen herauszufinden, worum es hinter den Vorwürfen gehen könnte.

Falls es dann doch mal zu heftig wird, gibt es hier einen Tipp, den ich von Gerald Hüther habe. Du könntest in etwa folgendes sagen: „Ich verstehe deinen Punkt. Ich sehe auch ein, was du sagst, aber wie du es sagst, das tut mir weh. Vielleicht hast du eine Idee, wie du mir das auf eine andere Weise sagen kannst, die uns nicht trennt, sondern, die uns verbindet.“

Und jetzt los.
Bewertet euch fleißig!
Gebt euch die Schuld!
Hört euch zu und verbindet euch, lernt euch tiefer kennen.
Seid offen und lasst es einfach wirken, was mit euch passiert.

Und schreibt mir gerne eure Bewertung dieses Artikels. 😋

Herzlichst
Dein Sven

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